Gegen das Vergessen – und für mehr Zivilcourage
„Ich filme nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch“, kommentierte einst einer der berühmtesten Dokumentarfilmer der Gegenwart, der bereits verstorbene Claude Lanzmann, seinen Film „Sobibor, 14. Oktober 1943, 16 Uhr“. Was er damit meinte, davon konnten sich die Schülerinnen und Schüler des Abschlussjahrgangs vom Bergstraßen-Gymnasium bei einer Veranstaltung anlässlich des 78. Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Programmkino „Brennessel“ überzeugen.
Lanzmann nutzt stimmungsvolle Naturaufnahmen (etwa die Farbe von Landschaften oder einen Sonnenuntergang), eine stockende Rede, Weinen und Schweigen oder das Schnattern von Gänsen als Metaphern, um das Unbeschreibbare zu transportieren. Dutzende Gänse, die über eine Wiese laufen, sind eben nicht nur Gänse. Sie dienten der akustischen Tarnung des Grauens. Die KZ-Wärter setzten sie ein, um Panik bei den auf den Tod wartenden Menschen zu verhindern. Die Laute der Tiere glichen den Schreien der im Gas sterbenden Menschen.
So wirkt der Dokumentarfilm über den Aufstand der Häftlinge im KZ Sobibor unterschwellig, aber vielleicht gerade deswegen umso eindrucksvoller, durch versteckte Zeichen und ausdrucksstarke Kontraste. Auch die angehenden Abiturient*innen zeigten sich beeindruckt.
Der Zweck der Veranstaltung liegt auf der Hand: Die Erinnerung an die Grauen der NS-Barbarei zu erhalten. Aber nicht nur das. Es galt, zwei Legenden richtig zu stellen. Nämlich die eine, die besagt, Juden hätten sich ohne Vorahnung in die Gaskammern führen lassen. Und die zweite, Juden hätten sich wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Das Lager Sobibor, in dem 250 000 Menschen ermordet wurden, wurde 1943 geschlossen – auch wegen eines Aufstandes der Insassen gegen ihre Peiniger. 300 Häftlingen gelang die Flucht, allerdings nur in 50 Fällen erfolgreich.
Trotzdem, es war ein Zeichen – man wollte sich eben nicht wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Ähnlich wie es der Warschauer Ghettoaufstand bewies. Tatsächlich waren Juden die größte Widerstandgruppe gegen Hitler.
Und noch etwas sollte die Dokumentation zeigen: Es ist wichtig, für Menschenrechte einzutreten und sich da, wo sie verletzt werden, zu wehren. Wie können wir heute „Widerstand“ gegen den wieder häufiger auftretenden Antisemitismus leisten? Wie Zivilcourage zeigen?
Benny Salz von der jüdischen Gemeinde in Mannheim diskutierte hierüber mit den Jugendlichen auf Einladung des Geschichtslehrers Patrick Baumgärtner. Zunächst knüpfte Benny Salz an den Film und den Aufstand in Sobibor an, indem er zusätzliche Informationen bot, wie es mit den Überlebenden weiterging und wie die Täter, etwa der stellvertretende Lagerkommandant Wagner, zur Rechenschaft gezogen wurden. Nämlich gar nicht. Ihm gelang die Flucht nach Brasilien. Dort wurde er von Stanislaw Szmayjzner, einem der 47 Überlebenden von Sobibor, aufgespürt, aber nie nach Europa ausgeliefert. Im Anschluss daran bot sich Gelegenheit, mit Benny Salz auch über die aktuelle Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland und den leider zunehmenden Antisemitismus zu diskutieren.
Außerdem begaben sich auch diese Jahr wieder zwei 9. Klassen zusammen mit Herrn Vogel und Herrn Weber auf lokalgeschichtliche Spuren. Hemsbach hatte lange Zeit eine kleine, aber gut funktionierende jüdische Gemeinde, die größten Teils im Nationalsozialismus ausgelöscht wurde. Der Erinnerung an sie hat sich der „Förderverein der ehemaligen Synagoge“ gewidmet, dessen Website viele Informationen zu den Biografien bietet. So konnten die Schülerinnen und Schüler Kurzvorträge vorbereiten, um die jeweiligen Einzelschicksale dem Rest der Klasse näher zu bringen. Damit dies nachhaltiger gestaltet werden konnte, trat man einen Rundgang durch Hemsbach an, ausgestattet mit Schwamm, Lappen und Putzmittel. Denn bereits vor Jahren sind „Stolpersteine“ in den Boden vor den jeweiligen Wohnhäusern eingelassen worden, die nun von Dreck und Schmutz befreit werden sollten. Nach etwa einer Stunde waren alle Messingplatten gesäubert und gleichzeitig den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit kleineren Vorträge und einer niedergelegten Rose gedacht.
So stand also nicht nur die Erinnerung an diesem Tag im Mittelpunkt, sondern auch die Frage, was wir heute dafür tun können, damit Antisemitismus und fehlende Toleranz keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft haben. Die Schülerinnen und Schüler bewiesen hierbei mit viel Empathie und Eigenverantwortung, dass sie bereit sind, ihren Teil dazu beizutragen.
Text: Web
Fotos: Bmg, Web